Es gibt keine Botschaften in diesen Geschichten. Es sind 
                keine Glückskekse, es sind Geschichten. Mit diesen Worten 
                beginnt die amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin die 
                Vorbemerkung zu den Kurzgeschichten ihrer Storysammlung 
Ein 
                Fischer des Binnenmeeres. Möglicherweise hat eine gewisse 
                Bescheidenheit sie zu dieser Bemerkung veranlaßt, möglicherweise 
                ist es eine bewußte Koketterie mit dem 
Understatement, 
                vielleicht war sie es aber auch einfach nur leid, immer wieder 
                mit Fragen konfrontiert zu werden, welche Aussagen sie mit ihren 
                Storys und Romanen nun eigentlich genau macht. Denn daß ihre Geschichten 
                ohne Botschaften sind, stimmt definitiv nicht. Wahr ist, man kann 
                Le Guins Texte durchaus als unterhaltsame Oberflächenlektüre 
                lesen und findet jedesmal unweigerlich die stimmungsvollen Schilderungen 
                einer sorgfältigen, oft akribischen Autorin, deren bedächtiger 
                Stil mehr dem Realismus des neunzehnten Jahrhunderts entlehnt 
                zu sein scheint, als der literarischen Postmoderne des zwanzigsten 
                Jahrhunderts. Wahr ist auch, daß es selten klare und 
eindeutige Botschaften oder Positionen in Le Guins Geschichten gibt. In ihren 
                besten Werken wägt sie verschiedene Standpunkte gegeneinander 
                ab und sucht meist, dem taoistischen Prinzip folgend, das viele 
                ihrer Erzählungen und Romane prägt, nach einem Zustand der Balance 
                zwischen Extremen, nach dem Gleichgewicht von 
yin und 
yang. 
                Viele Geschichten Le Guins sind Gleichnisse, politische oder gesellschaftliche 
                Parabeln, die man, wie gesagt, allerdings nicht unbedingt als 
                solche lesen muß. Macht man sich allerdings die Mühe, unter die 
                polierte Oberfläche bloßer Erzähl-Literatur zu tauchen, findet 
                man ein an Aussagen fast überbordendes Werk, das einen breiten 
                Bogen von der Science Fiction über die Fantasy bis hin zum Realismus 
                spannt.
Ursula Kroeber Le Guin wurde am 21. Oktober 1929 in Berkeley, 
Kalifornien, geboren - als Tochter des Anthropologen Alfred L. 
Kroeber und der Schriftstellerin Theodora K. Kroeber. Kindheit 
und Jugend im Akademikermilieu der Universitätsstadt haben sie 
                als Schriftstellerin ebenso sehr geprägt wie der frühe Kontakt 
                mit Mythen und Sagen der indianischen Ureinwohner, der das Interesse 
                für Anthropologie geweckt haben dürfte. Zu schreiben begann Ursula 
                K. Le Guin schon 1951. Sie verfaßte fünf realistische, in einem 
                Phantasiestaat in Mitteleuropa angesiedelte Romane, für die sie 
                keinen Verleger fand (man geht davon aus, daß diese Romane in 
                umgearbeiteter Form später zu dem Zyklus von Erzählungen wurden, 
                die 1976 gesammelt unter dem Titel 
Orsinian Tales (dt: 
Geschichten aus Orsinien) erschienen, sowie dem Roman 
Malafrena (1979; dt: 
Malafrena), die in dem fiktiven europäischen 
                Staat Orsinien spielen). Anfang der sechziger Jahre wandte sie 
                sich erstmals der Phantastik zu und schrieb anfänglich nur notdürftig 
                als SF kaschierte Fantasy-Erzählungen.
Im eingangs zitierten Vorwort der Story-Sammlung 
A Fisherman 
                of the Inland Sea (dt: 
Ein Fischer des Binnenmeeres) 
                macht die Autorin deutlich, weshalb sie sich zur Science Fiction 
                hingezogen fühlt: Was ich an und in der Science Fiction 
                schätze, schließt folgende Vorzüge ein: Vitalität, Größe und exakte 
                Phantasie; Verspieltheit, Vielfalt und ausdrucksvolle Metaphern; 
                Freiheit von konventionellen literarischen Erwartungen und Manierismen; 
                moralische Ernsthaftigkeit; Geist; Verve; und Schönheit. 
                Le Guins Neigung zur Science Fiction mag entgegenkommen, daß die 
                SF im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine experimentierfreudige 
                Literatur grenzenloser Freiheit des Ausdrucks, sondern tief in 
                ihrem Herzen eine konventionelle, allen Spielarten der Phantasie 
                zum Trotz realistische Literatur insofern ist, als sie sich stets 
                bemüht, die geschilderten Schauplätze und Ereignisse durch eine 
                möglichst realistische Schilderung so plastisch und glaubwürdig 
                wie möglich zu machen. Ein experimenteller und avantgardistischer 
                Stil, wie ihn beispielsweise die surrealen Phantasien eines John 
                Barth kennzeichnen, würde die geschilderte imaginäre Welt sofort 
                als bloßes literarisches Konstrukt entlarven. 
Ursula Le Guins Science Fiction besteht in der Mehrheit aus dem 
Hainish-Zyklus, der einen gemeinsamen Hintergrund 
                für die Romane und Kurzgeschichten bildet und von folgender Prämisse 
                ausgeht: Vor langer Zeit haben die Bewohner des Planeten Hain 
                die Planeten in unserem Teil der Galaxie besiedelt, auf denen 
                Leben möglich ist; auf diesen Welten haben sich im Lauf der Jahre 
                eigenständige Kulturen entwickelt, die die Autorin mit ihrem anthropologischen 
                Hintergrund stets faszinierend darzustellen weiß. Der gesamte 
                Zyklus beginnt etwa dreihundert bis vierhundert Jahre nach unserer 
                Zeit und umfaßt einen Zeitraum von rund zweieinhalbtausend Jahren. 
                Le Guins erste veröffentlichte Romane sind in der internen Chronologie 
                des Zyklus spät angesiedelt: 
Rocannons World (1966, 
                revidierte Fassung 1977; dt: 
Rocannons Welt) Planet of 
                Exile (1966; dt: 
Das zehnte Jahr) und 
City of Illusions (1967; dt: 
Stadt der Illusionen). In 
Rocannons 
                World strandet der Ethnologe Rocannon als einziger Überlebender 
                einer Expedition auf dem Planeten Fomalhaut II, dessen friedfertige 
                Bewohner hilflos den Angriffen brutaler Rebellen ausgeliefert 
                sind. Rocannon beschließt, den Bewohnern zu helfen, das Joch der 
                Unterdrückung abzustreifen; als er sich der fremden Kultur des 
                Planeten ganz öffnet, erhält er dafür die Gabe der Gedankensprache 
                oder Telepathie. Mehr als tausend Jahre interner Zeitrechnung 
                sind vergangen, als die Handlung von 
Planet of Exile einsetzt. 
                Die Gedankensprache ist längst Allgemeingut geworden, 
                doch die menschlichen Siedler auf Eltanin, dem dritten Planeten 
                von Gamma Draconis, verlieren bereits die Kontrolle über die Fähigkeit. 
                Die Menschen verabscheuen die Eingeborenen des Planeten zutiefst, 
                müssen aber unter dem Druck der Ereignisse lernen, miteinander 
                zu leben. 
City of Illusions ist eine direkte Fortsetzung, 
                und schildert die Erlebnisse des jungen Mannes Falk, der ohne 
                Gedächtnis auf einer Waldlichtung in einem verwüsteten Amerika 
                der Zukunft erwacht. Die Erde ist von den außerirdischen Shing 
                besetzt, die als einzige die Fähigkeit der Gedankenlüge 
                besitzen. Als Falk die Hauptstadt der Shing erreicht, stellt er 
                fest, daß die Außerirdischen schon lange nach ihm suchen. Er stammt 
                von einem fernen Planeten, dessen Lage die Shing um jeden Preis 
                erfahren wollen, um ihn zu zerstören. Die Shing stellen Falks 
                ursprüngliche Persönlichkeit wieder her, ein Prozeß, bei dem seine 
                Identität als Falk eigentlich verlorengehen müßte. Aber Falk, 
                der in Wahrheit Remarren heißt, gelingt es durch reine Willenskraft, 
                beide Identitäten zu erhalten. Er besiegt die Shing und bricht 
                auf, um seinen Heimatplaneten zu warnen, bei dem es sich um keinen 
                anderen als Gamma Draconis III handelt.
Folgt man der Prämisse, wonach die Science Fiction in erster Linie 
                eine seismische Literatur ist, die im Gewand der Verfremdung 
                tatsächliche Entwicklungen und Zeitströmungen kommentiert, ist 
Rocannons World zu allererst einmal eine Parabel 
                auf den Vietnamkrieg. Die Studentenunruhen in ihrer Heimatstadt 
                Berkeley Ende der sechziger Jahre haben einen nicht unerheblichen 
                Einfluß auf Le Guins frühe Werke ausgeübt. Die Sehnsucht nach 
                politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und Kritik an 
                den herrschenden Zuständen findet immer wieder Ausdruck; die Realisierung 
                einer Utopie wird herbeigesehnt, doch als sie schließlich verwirklicht 
                ist, bleibt fraglich, ob sie tatsächlich das ersehnte Paradies 
                bringt. Das verdeutlicht schon der Untertitel von Le Guins Meisterwerk, 
                dem 1974 erschienen umfangreichen Romane 
The Dispossessed: 
                An Ambiguous Utopia, zu Deutsch Eine zweideutige, 
                fragwürdige Utopie. Die einzigen Konstanten in Le Guins 
                Werk sind Balance und Veränderung. Alles fließt, nichts bleibt, 
                wie es ist, und so kann auch der in 
The Dispossessed entworfene 
                utopische Idealstaat kein dauerhaftes Paradies bringen.
Einen deutlicheren Kommentar zum Krieg in Vietnam liefert die 
1972 erstmals veröffentlichte Novelle 
The Word for World is 
                Forest (dt: 
Das Wort für Welt ist Wald), das allerdings 
                auch Parallelen zur Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, 
                der Indianer, durch weiße Siedler aufweist. Hier wird der Planet 
                New Tahiti von Menschen besiedelt, die die Ureinwohner geringschätzig 
                als Creechies bezeichnen. Die Creechies 
                blicken auf eine jahrtausendealte Kultur zurück, die kaum Fortschritt 
                und technologische Entwicklung kennt, deren Angehörige aber dafür 
                in tiefer Naturverbundenheit und Frieden in einem perfekten System 
                ökologischen Gleichgewichts leben. Die Friedfertigkeit der Creechies 
                resultiert daraus, daß es ihnen möglich ist, ihre Aggressionen 
                in Tagträumen abzureagieren. Als die Menschen allen Warnungen 
                zum Trotz damit beginnen, weiter Bereiche der Wälder abzuholzen, 
                wird das ökologische Gleichgewicht zerstört, die Ureinwohner verlieren 
                die Fähigkeit der Tagträume und lernen, zu töten.
Auch hier finden sich zentrale Metaphern Le Guins: Entfremdung 
führt zu Gewalt, Irrsinn und blindwütigem Egoismus; Überleben 
                ist erst möglich, als die Menschen von ihrem egozentrischen Weltbild 
                abrücken und sich dem Fremden öffnen. Dies beinhaltet ebenfalls 
                eine klare Absage an das Christentum und die christliche Religion, 
                die mit ihrem Alleinigkeitsanspruch Leid über die Welt gebracht 
                hat. Religiöse und politische Systeme trennen; nur in ihrer Aufgabe, 
                der Abkehr von Dogmatismus, der Verschmelzung der Kulturen, liegt 
                das Heil.
The Word for World is Forest versinnbildlicht das taoistische 
                Prinzip des ziran, das Spontaneität, Ungebundenheit 
                und vor allem die Rückbesinnung auf die Natur beinhaltet. Zhuang 
                Zhou (ca. 370  ca. 300 v. Chr.), einer der bedeutendsten 
                Denker des Taoismus, formulierte in seinem Hauptwerk 
Zhuangzi, 
                dem ersten überlieferten chinesischen Prosatext, das taoistische 
                Ideal des autonomen Lebens frei von allen Zwängen. Eine der Maximen 
                lautet, daß man weder im Denken, noch im praktischen Handeln oder 
                Herrschen den Dingen Gewalt antun darf, ein Prinzip, das die eingeborenen 
                Creechies in hohem Maße erfüllen. In der Betonung 
                von Gewaltfreiheit und Individualität ist auch eine gewisse Nähe 
                zu anarchistischen Idealvorstellungen gegeben, daher verwundert 
                es wenig, daß sich Le Guin in ihrem großen politischen Entwurf, 
The Dispossessed, auch dieser Ideologie zuwandte.
Zuvor aber erschien ihr erstes, ebenfalls dem Hainish-Zyklus zugehöriges 
                reifes Meisterwerk, der Roman 
The Left Hand of Darkness (1969; dt: 
Winterplanet, auch: 
Die linke Hand der Dunkelheit). 
                Neben politischen Fragen stehen hier auch erstmals feministische 
                Themen im Mittelpunkt der Handlung. In ihrem Essay Is Gender 
                Necessary? (dt: Brauchen wir das Geschlecht?) 
                schreibt die Autorin: Etwa im Jahr 1967 machte sich ein 
                gewisses Unbehagen bei mir bemerkbar (...) Ich wollte die Bedeutung 
                von Sexualität und Geschlecht in meinem Leben und in unserer Gesellschaft 
                definieren und verstehen lernen. (...) Aber ich war weder Theoretiker 
                noch politischer Denker, Aktivist oder Soziologe. Ich war und 
                bin eine Romanautorin. Meine Gedanken drückten sich in einem Roman 
                aus. Dieser Roman, 
Der Winterplanet [sic!], ist die Niederschrift 
                meines Bewußtseins, mein lesbar gewordener Denkprozeß.
Auch in 
The Left Hand of Darkness besucht ein Ethnologe, 
                Genly Ai, eine fremde Welt, den Planeten Gethen, um ihn der Liga 
                der Welten einzugliedern, und die Handlung des Buches folgt einem 
                vertrauten Grundmuster Le Guins, dem der Queste, der 
                Suche in einem Klima von Eis und Schnee. Drohte in 
Planet of 
                Exile ein dreißigjähriger Winter, so herrscht auf Gethen ständig 
                Kälte, allerdings gibt es Anzeichen dafür, daß das Eis zu schmelzen 
                beginnt. Die Bewohner des Planeten sind androgyn; während einer 
                kurzen Phase sexueller Aktivität jeden Monat, kemmer 
                genannt, entscheidet sich, welcher der beiden Partner einer Beziehung 
                welches Geschlecht annimmt. Gether können Kinder ebenso als Mütter 
                zur Welt bringen wie als Väter zeugen  einen direkten Einfluß 
                darauf, welches Geschlecht sie annehmen werden, haben sie nicht. 
                Die gesellschaftlichen Folgen dieser Androgynie sind, wie Pamela 
                J. Annas in ihrem Aufsatz New Worlds, New Words: Androgyny 
                in Feminist Science Fiction (dt: Neue Welten, neue 
                Worte: Androgynie in der Frauen-Science Fiction [in dem 
                Band 
Feministische Utopien  Aufbruch in die postpatriarchalische 
                Gesellschaft, Meitingen 1986] anmerkt, klar und deutlich herausgearbeitet: 
                Auf Winter gibt es keinen Krieg. Es gibt keine Arbeitsteilung 
                nach Geschlechtern, die ständige Rechtfertigung für solch eine 
                Aufteilung wird dadurch aufgehoben, daß jedes Individuum Kinder 
                gebären kann. Entscheidend für das politische System auf 
                Gethen oder Winter ist: In der Regierung besteht eine Balance 
                zwischen Hierarchie und Anarchie.
Gesellschaftliche wie individuelle Themen werden erschöpfend dargestellt. 
                Wie sehr wir in unserem Denken vom traditionellem Rollenverhalten 
                der Geschlechter geprägt sind, zeigt sich, als Ai gezwungen ist, 
                mit dem Eingeborenen Estraven  den er als Mann wahrnimmt 
                 eine lange Wanderung durch das ewige Eis des Planeten zu 
                unternehmen. Ais anfängliches Unvermögen, die Kultur des Planeten 
                zu verstehen, rührt teilweise daher, daß er die Bewohner wie auch 
                sich selbst unablässig in geschlechtsspezfischen Sichtweisen betrachtet, 
                während er für sie kein Mann, sondern nur ein Mensch ist.
Gethens öffentliches Leben wird von zwei Staatsformen bestimmt. 
                Orgoreyn ist ein Land mit einem sozialistischen System, Karhide 
                ein Königreich, das in seinem zunehmenden Zentralisierungsstreben 
                 ein Wesensmerkmal, das der Staat mit dem Nachbarland Orgoreyn 
                teilt  allmählich zur Diktatur wird. Herrschaft bedeutet 
                in beiden Staaten Unterdrückung des Individuums wie auch Unterdrückung 
                dynamischer sozialer Prozesse (wodurch den Dingen durch Herrschaft 
                Gewalt angetan wird, eine Verletzung des taoistischen Prinzips) 
                mit dem Ziel, statische politische und gesellschaftliche Gebilde 
                zu schaffen, die in Le Guins Weltsicht nicht überlebensfähig sind. 
                Dies ist eine Ansicht, die die Autorin interessanterweise mit 
                einigen Kollegen aus dem Science Fiction-Genre teilt. So sagte 
                Theodore Sturgeon schon 1980 in einem Interview mit Bjo Trimble: 
                Wenn Sie nach einer Grundwahrheit suchen, da gibt es nur 
                eine: Alles ist in Bewegung, im Wandel begriffen. (...) Bis zum 
                heutigen Tag haben wir ausschließlich versuchen können, eine Gesellschaft 
                statisch zu machen, das ist der Fehler bei allen Utopias; es erklärt, 
                warum sie immer zum Scheitern verurteilt waren, selbst in der 
                Literatur. (
Perry Rhodan Magazin, Nr. 9/1980).
Die klassische Utopie als Vision vom idealen Staate, sei sie christlich 
geprägt wie Johann Valentin Andraes 
Christianopolis (1619) 
                oder sozialistisch wie Edward Bellamys berühmtes 
Looking Backward: 
                2000  1887 (1888), geht stets davon aus, daß ein gesellschaftlicher 
                wie politischer Idealzustand erreicht und Veränderung daher weder 
                notwendig noch wünschenswert ist. Diese Überzeugung läßt sich 
                mit Le Guins Weltsicht, wie sie sich in ihren Romanen und Erzählungen 
                präsentiert, kaum vereinbaren. Schon allein deshalb ist ihr großer 
                gesellschaftspolitischer Roman 
The Dispossessed (dt: 
Planet 
                der Habenichtse) bestenfalls ein fragwürdiges 
                Utopia und schon von der Konzeption her, wiewohl der klassischen 
                Sozialutopie des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet, dem herkömmlichen 
                utopischen Entwurf diametral entgegengesetzt. Präsentiert uns 
                die klassische Utopie im Normalfall eine uns unbekannte Gesellschaft 
                durch die Augen eines vertrauten Beobachters mit unserem gesellschaftlichen 
                Hintergrund, beschreitet Ursula K. Le Guin den entgegengesetzten 
                Weg und präsentiert uns eine vertraute Gesellschaft durch die 
                Augen eines Fremden mit gänzlich andersartigem Hintergrund. Mit 
The Dispossessed kehrt Le Guin von entlegenen Randbezirken 
                zurück ins Zentrum ihres Hainish-Universums  der Roman steht 
                gewissermaßen am Beginn der internen Chronologie des Hainish-Zyklus 
                und erzählt, wie ein Physiker mit neuen mathematischen Ansätzen 
                die Erfindung des Ansible vorantreibt, einer überlichtschnellen 
                Kommunikationsmethode, die die Liga der Welten, auf der der gesamte 
                Zyklus basiert, überhaupt erst ermöglicht.
Im New York City born and raised, but nowadays Im 
                lost between two shores, singt Neil Diamond in einem seiner 
                Songs, dessen Inhalt vornehmlich um das Problem sozialer, kultureller 
                und persönlicher Entfremdung kreist, und ähnlich ergeht es dem 
                Physiker Shevek, dem Protagonisten von 
The Dispossessed, 
                der seine Heimatwelt Anarres verläßt, die als Mond den Planeten 
                Urras umkreist, und nach Urras geht, um dort seine neuen mathematischen 
                Theorien in die Tat umzusetzen.
Nach einem Aufstand anarchistischer Kräfte auf Urras hat man den 
                Rebellen vor langer Zeit ermöglicht, auf den unfruchtbaren Mond 
                auszuwandern und dort eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen 
                aufzubauen, die weitgehend dem utopischen Idealbild entspricht, 
                das Kropotkin, der Vordenker der anarchistischen Bewegung, entworfen 
                hat. (Die Ereignisse, die zu diesem Aufstand führen, werden übrigens 
                in der preisgekrönten Kurzgeschichte The Day Before the 
                Revolution (1974, dt: Der Tag vor der Revolution) 
                geschildert.) Shevek fühlt sich in der Gesellschaft von Anarres 
                nicht heimisch, noch weniger aber im kapitalistischen System, 
                das ihm auf Urras begegnet  und das in weiten Zügen unserer 
                eigenen Gesellschaftsform entspricht.
The Dispossessed stellt die klassische Frage, die den Kern 
                einer jeden utopischen Literatur bildet: Welches ist das Höchstmaß 
                an individueller Freiheit, das sich noch mit einer gesellschaftlichen 
                Ordnung vereinbaren läßt? Bequeme Lösungen bietet die Autorin 
                freilich nicht: Weder die anarchistische Gesellschaft auf Urras 
                noch die kapitalistische auf Anarres sind in ihrem Wesen totalitär. 
                Beide basieren auf einem gewissen Grundbedürfnis nach Freiheit 
                des Individuums. Urras ist kapitalistisch, aber der entfesselte 
                Kapitalismus unserer Welt wird nicht geduldet. Ganz ohne Reglementierung 
                kommt hingegen auch die herrschaftsfreie Gesellschaft auf Urras 
                nicht aus. Und somit sind sich die beiden Systeme ähnlich und 
                doch grundverschieden, nahe und doch durch Welten voneinander 
                getrennt.
Eine simple Botschaft bietet der Roman nicht, was nicht heißen 
                soll, daß er keine enthält. Zwei verschiedene politische Systeme 
                werden gegeneinander abgewogen, und auch wenn die Verfasserin 
                erkennen läßt, daß sie dem romantisch verklärten Anarchismus auf 
                Urras den Vorzug gibt, entscheidet sie sich nicht für eine Gesellschaftsform, 
                sondern überläßt es dem Leser, zu eigenen Schlußfolgerungen zu 
                kommen.
Es ist interessant, eine Brücke zu schlagen von diesem explizit 
                politischen Hauptwerk zu einer jüngeren Kurzgeschichte, doch zuvor 
                gilt es, eine letzte Metapher zu verdeutlichen, die in Le Guins 
                Werk ebenfalls immer wiederkehrt, die der Grenze bzw. der Grenzüberschreitung. 
                Grenzen werden in Le Guins Romanen und Erzählungen immer wieder 
                überschritten, und diese Grenzübertritte sind (von einer bemerkenwerten 
                Ausnahme abgesehen), nicht reversibel. Die verlorene Unschuld 
                der Kindheit kann niemals wiedererlangt werden; geschehenes Unrecht 
                läßt sich sühnen, niemals ungeschehen machen. Als Shevek sich 
                entschließt, Anarres zu verlassen und nach Urras zu gehen, wird 
                er zum Ausgestoßenen seines eigenen Volkes; sein Aufenthalt auf 
                Urras wird ihn für immer verändern. Die Menschen in 
The Word 
                for World Is Forest können um Vergebung für das Unrecht bitten, 
                das sie den Eingeborenen antun, aber was geschehen ist, läßt sich 
                niemals ungeschehen machen.
Die bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel ist die Kurzgeschichte 
Another Story or A Fisherman of the Inland Sea (1994; 
                dt: Eine andere Geschichte oder Ein Fischer des Binnenmeeres). 
                Hier geht es um das Schicksal von Tiokunann Hideo vom Planeten 
                O, der (wie Shevek) seiner Heimat den Rücken kehrt, um an der 
                Verwirklichung einer bemerkenswerten Erfindung mitzuwirken. Tiokunann 
                reist nach Hain, wo nach einer Möglichkeit geforscht wird, in 
                Nullzeit durch den Raum zu reisen, was das Netz der Welten weiter 
                zusammenschweißen und das Problem der Zeitdilatation beim Flug 
                nahe Lichtgeschwindigkeit aus der Welt schaffen würde. Tiokunann 
                trifft seine Entscheidung: Er läßt seine Geliebte, seine Familie 
                und seine Freunde auf der ländlichen und idyllischen Welt zurück, 
                aus der er kommt, besucht sie aber in regelmäßigen Abständen und 
                sieht die Auswirkungen, die sein Entschluß auf andere gehabt hat 
                 seine Jugendliebe, seine Mutter, die einst aus Liebe zu 
                seinem Vater alles aufgegeben hat. Anders als die Protagonisten 
                früherer Romane und Erzählungen von Ursula Le Guin bekommt er 
                jedoch die Chance, das Geschehene ungeschehen zu machen, denn 
                als er sich selbst freiwillig für ein Experiment mit der zeitlosen 
                Reise durch den Raum macht, erreicht er zwar sein Ziel, seinen 
                Heimatplaneten O, aber er wurde zehn Jahre in die Vergangenheit 
                zurückversetzt, an den Tag vor seinem Aufbruch. Mit Wissen um 
                die Zukunft überdenkt er seine Entscheidung neu und beschließt, 
                seine Welt nicht zu verlassen, seine Jugendliebe zu heiraten und 
                eine Familie zu gründen.
Setzt man sie in direkte Relation zu 
The Dispossessed, 
                bietet auch die Geschichte Another Story zwei Interpretationsmöglichkeiten, 
                eine hoffnungsvolle und eine resignierte: Nach der politischen 
                Aufbruchstimmung Ende der sechziger Jahre (von denen 
The Left 
                Hand of Darkness und 
The Dispossessed in hohem Maße 
                geprägt sind), kommt die bittere Erkenntnis vom Ende der Utopien: 
                Gesellschaftliche Veränderung läßt sich auf breiter Ebene nicht 
                herbeiführen; auf diese Erkenntnis folgt der Rückzug ins Private. 
                Man könnte versucht sein, das als simple Schuster, bleib 
                bei deinen Leisten oder Begnüge dich mit deinem Platz-Moral 
                abzutun, aber diese kurzsichtige Schlußfolgerung wäre irrig: Möglicherweise 
                ist das Private ja gerade der erste Schritt, die Verwirklichung 
                der Utopie auch auf gesellschaftlicher Basis zu beginnen. Die 
                andere Interpretationsmöglichkeit (die auch keineswegs im Widerspruch 
                mit den Kernaussagen früherer Werke steht), wäre die, daß gesellschaftliches 
                Glück stets mit individuellem Glück beginnt, Tiokunanns 
                Rückzug also im übertragenen Sinne nicht auf Resignation hinauslaufen 
                muß, sondern im Gegenteil, in sich den Keim der Hoffnung auf ein 
                besseres Leben und eine bessere Welt trägt.
Neben diesen Hauptströmen ist immer wieder die Beschäftigung mit 
                Linguistik und Sprache ein Thema, das in vielen Erzählungen und 
                Romanen der Autorin anklingt. So etwa in der Kurzgeschichte The 
                Shobies Story (dt: Die Geschichte der Shobies). 
                Hier wird eine neue Methode der interstellaren Reise in Nullzeit 
                erprobt, doch das Erlebnis zertrümmert die gemeinsame Wahrnehmung 
                der Beteiligten, die sich fortan rätselhaften Phänomenen ausgesetzt 
                sehen und die Welt und Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen. 
                Ein Ausweg bietet sich erst, als sich alle gemeinsam zusammensetzen 
                und sich erzählend die Welt neu erschaffen. Die Story greift die 
                in der Philosophie häufig gestellte Frage auf, inwieweit die Sprache 
                unsere Wahrnehmung und damit die Realität selbst formt und bestimmt. 
                In The Shobies Story haben wir es mit einer 
                ganzen Welt als Wille und Vorstellung zu tun, deren 
                Konstante der sprachliche und interpretatorische Konsens ist, 
                auf den sich die Mehrzahl der Wahrnehmenden geeignigt haben und 
                einigen können.
Daß Sprache aus diesem Grund schon das perfekte Mittel der Manipulation 
                ist, hat schon George Orwell in seiner berühmten Dystopie 
1984 gezeigt. Dies bildet auch das zentrale Problem im bislang letzten 
                Beitrag zum Hainish-Zyklus, dem Roman 
The Telling (2000, dt: 
Die Erzähler), dessen 
                Struktur sehr den früheren Romanen ähnelt: Auch hier reist eine 
                Forscherin der Ökumene der Welten zu einem neu in den Bund aufgenommenen 
                Planeten. Ein neuer Staat ist hier entstanden, der die alte Kultur 
                der Welt verdrängt und verboten hat. Die Protagonistin unternimmt 
                eine Reise und begegnet in einer entlegenen Bergregion Rebellen, 
                die die alte Kultur allein durch die Kunst des telling, 
                des Erzählens, am Leben halten. Sprache ist für Orwell ausschließlich 
                ein Instrument der Manipulation und Unterdrückung, Ursula Le Guin 
                hingegen zeigt einmal mehr die Ambivalenz, indem sie, wie in 
The 
                Dispossessed, zwei Positionen gegeneinander abwägt: Sprache 
                als Instrument der Manipulation in Form der Propaganda des totalitären 
                Regimes, die an jeder Straßenecke aus Lautsprechern plärrt einerseits; 
                Sprache als Träger von Informationen, die andernfalls verloren 
                gingen und eine ganze untergegangene Kultur am Leben erhalten 
                können andererseits. Und so wird dem Geschichtenerzählen eine 
                eine und enorme Bedeutung beigemessen: Geschichten helfen uns, 
                das Leben und den Sinn menschlicher Existenz auszuloten und zu 
                verstehen. Erzählend die Welt begreifen, deuten und formen, das 
                mag durchaus die Hauptaufgabe des Schriftstellers und Erzählers 
                sein  besonders des Science Fiction-Autors.
Trotz aller gedanklichen Tiefe und aller Denkansätze, trotz aller 
                Fülle von Themen und Aspekten, über die sich nachzudenken lohnt, 
                bleibt aber letztendlich eines übrig  diesbezüglich muß 
                man der Autorin recht geben, und damit schließt sich der Kreis 
                dieser kurzen Studie und wir kehren an den Anfang zurück: Geschichten. 
                Ob mit einer Botschaft oder ohne, bleibt letztendlich dem individuellen 
                Leser überlassen. Geschichten sind unsere einzigen Boote, 
                um auf dem Strom der Zeit zu segeln, schreibt Tiokunann 
                Hideo im Bericht über seinen Zeitsprung an die Verantwortlichen 
                auf Hain. Ursula Le Guins Geschichten sind Boote von Meisterhand. 
                Ihr Hauptverdienst besteht in jedem Falle darin, daß sie keine 
                trockenen didaktischen Traktate liefert, sondern sich in erster 
                Linie von ihrer Lust am Fabulieren leiten läßt. In ihren besten 
                Texten verschmelzen eine Sprache von schlichter Schönheit, Metaphernreichtum, 
                Inhalt und Form zu einem Ganzen, wie es in der Science Fiction 
kaum seinesgleichen hat.
 Copyright © 2002 by Joachim Körber